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80 Jahre zwischen Natur und Kultur

1. Ostseeküste und Kriegstrauma

2. Europa‘s Vielfalt und Studienträume

3. Amerika‘s Größe und Zerrissenheit

4. Süddeutsche Tradition und Sozialkonflikte

5. Asiatischer und italienischer Zauber und Chaos

6. Russland‘s Weite und Umsturz

7. Thailand‘s Feudalismus und Freizügigkeit

8. Berlin‘s Mauer und Migration

1. Ostseeküste und Kriegstrauma

Ein wohlbehütetes Kind sollte ich sein, doch es kam ganz anders. Mein Vater stammte aus einem schwäbischen Pfarrhaus und kam früh zu wissenschaftlichem Ruhm, als er herausfand, woraus sich Sterne zusammensetzen. Er lernte meine Mutter, Tochter des wohlhabenden Kieler Direktors der Straßenbahn und promovierende Zoologin, dort im Nachbarhaus kennen.

Der Satz „Jetzt ist Krieg“ am 1.Sept.1939 hat sich mir damals tief eingeprägt. Als Sechsjähriger las ich in der NS-Zeitung bereits in ihrem Ausmaß kaum erfassbare Nachrichten von Stalingrad. Kurz nach einem Parademarsch vorbei an Hitler auf dem Balkon unserer Schule fielen nachts Sprengbomben nicht nur auf diese und später auch auf unser Nachbarhaus, nur 10 Meter von mir im Keller entfernt. Es folgte eine ebenso traumatische Zeit an der Küste, wo nahe über am Meer ein Flugzeug abgeschossen und bald darauf ich selbst von einem Tiefflieger beschossen wurde. Dann grimmige Winter und Schulbesuch in der Ruinenstadt. Äußerlich habe ich alles einigermaßen überstanden, aber die Schuljahre auf einem humanistischen Gymnasium waren von Verdrängung geprägt.


2. Europa‘s Vielfalt und Studienträume

Während der Schulzeit streckte ich meine Fühler nach allen Richtungen aus, baute Radios und Antennen, kam jeweils mit Visum per Ruderboot nach Dänemark, per Fahrrad nach Österreich und per Dampfzug nach Paris, hatte jedoch Schwierigkeiten mit anderen Mädchen und Jungen. Nach dem Abi und einem Industriepraktikum studierte ich Kernphysik vielseitig abgelenkt in Freiburg/Br, Zürich, Heidelberg und Molekularbiologie in Köln, wollte vergeblich etwas für Frieden und gegen Atombomben tun, und endete nach zahlreichen meist eher platonischen Beziehungen und der Promotion in einer Ehe mit einer Künstlerin aus theologischer Familie, aus der zwei Kinder und später fünf Enkel hervorgingen.


3. Amerika‘s Größe und Zerrissenheit

Nach nur beschränkt motivierter biologischer Forschung lockte die realisierbare Möglichkeit, am MIT in den USA zu arbeiten. Kurz vor dem Aufbruch ging die Ehe nach Eskapaden in die Brüche, welche auch dort kein Ende nahmen. Nach der Beschäftigung mit der Natur kam nun Interesse an Kultur voll zum Durchbruch mit englischem, französischem und spanischem Sprachstudium und Partnerinnen aus entsprechenden verschiedenen Ländern. Ich verbrachte viel Zeit mit Schmalfilm-Aufnahmen, Reisen und Protesten gegen den Vietnamkrieg, knüpfte Kontakte zu Afro-Amerikanern, jüdischen Wissenschaftlern und Mexikanern, und ging nach fast zwei Jahren ein weiteres Jahr an ein auch weitgehend jüdisches Institut der Sorbonne in Paris, wo mich einerseits Ehescheidung und andererseits Auseinandersetzung mit meinem Raketen-bauenden Nazi-Onkel wieder mehr als mein Interesse an Zell-Membranen beschäftigten, woraus aber später ein allgemeineres Interesse an Grenzen erwuchs. Zwei letzte Hochschuljahre an der neuen Reform-Universität Konstanz änderten daran auch nicht mehr viel. Reisen nach Lateinamerika und leitende Tätigkeit bei Amnesty International nach dem Chile-Konflikt standen im Vordergrund.


4. Süddeutsche Tradition und Sozialkonflikte

Begann in München 16mm-Filme in Bohème-Manier zu verschiedensten Themen zu machen. Das bald aufgebrauchte Geld zwang nach einem Jahr Taxi zu fahren. Beziehungen mit einer Südamerikanerin führten zu weiterer Integrationsarbeit für chilenische Flüchtlinge, mit einer Jüdin zur Auseinandersetzung mit der düsteren deutschen Vergangenheit und dem Holocaust, und mit einer jungen Tschechin zu spirituellem Bohème-Leben und vor allem zu einem Sohn und letztlich zu zwanzig Jahren als alleinerziehender Vater. Die selbst finanzierten und mit hohem persönlichen Engagement gemachten Filme interessierten weder die Frauen noch die Fernseh-Anstalten. Das Taxi-fahren wurde dagegen zu einer prägenden Lebensschule für den erfolglosen Wissenschaftler.


5. Asiatischer und italienischer Zauber und Chaos

Mehr als die bayerische Bierkultur interessierte mich der damalige Trend zu indischer Spiritualität mit dem Anspruch, östliche und westliche Kultur einander näher zu bringen, was jedoch an finanziellen und legalen Problemen scheiterte, so etwa auch eine selbst geführte chaotische, aber den Sohn im Vorschulalter recht gut integrierende Wohngemeinschaft. Verschiedene Wohnprojekte in Italien schlossen sich an mit ähnlicher Zielsetzung nunmehr in europäischem Rahmen, stießen jedoch um 1985 noch auf zunächst wenig wahrgenommene tiefe Ressentiments gegen die Deutschen in der dortigen jungen Alternativszene wegen der nicht vergessenen schrecklichen, aber kaum erwähnten Gräueltaten von Soldaten während des Kriegs. Doch die italienische Sprache mit der ausdrucksstark gelebten Kultur hinterließ tiefe Spuren und Liebe zu dem Land, und eben auch die Fähigkeit, diese sprechen zu können.


6. Russland‘s Weite und Umsturz

Es folgten mühselige Jahre in München erst allein mit dem Sohn, dann wieder in ähnlich chaotischer Wohngemeinschaft, und erneut allein neben einer neu entstehenden U-Bahnstation im Übergangsbereich zur Vorstadt. Das in Italien gern genutzte Motorrad, auf dessen Rücksitz der „Sohnemann“ gefährlich aber unbeschadet einschlief, wurde in einen Computer mit bald folgendem erstmaligem Internetzugang umgetauscht. Dies war die Basis für aktuelles Verfolgen der sanften, aber heftigen Revolutionen in Berlin und Moskau, und einer ersten Online-Bekanntschaft mit einer russischen 35-jährigen Frau aus Petersburg. Ihr Vater war ein von Stalin umgebrachter Diplomat, die Mutter eine Zigeuner-Künstlerin, und sie selbst auf den Dächern der Stadt herumkletternd unten „wie fast alle“ zu leichterem Gewerbe gezwungen. Später freundete ich mich in Moskau mit einem jungen Akademiker-Ehepaar an und erlebte nicht ganz unmittelbar Attentate und die brennende Duma mit. Je besser ich nach etwa einem Dutzend ca. einmonatiger Reisen die russische Sprache lernte, umso mehr trat russische Literatur in den Vordergrund. Es folgten in München zwei sehr verschiedene Beziehungen mit Russinnen. Erst führte eine letzte romantische, aber unerfüllte Liebe bis ins Wolga-Delta, gefolgt von immer weniger gehemmten Besuchen bei teils auch aus Russland stammenden „Mädchen“

in München. Das fand ein Ende mit der dortigen eigenen Gründung eines russischen weitgehend jüdischen Kulturklubs und einer Beziehung mit einer russisch-jüdischen Emigrantin, die ähnlich wie die erste jüdische Freundin sehr schön, aber mehr mit Israel als mit mir beschäftigt war. Ein tief berührender Moment war ein gemeinsamer Besuch des Holocaust-Denkmals in Berlin, das nun Hauptstadt und für mich attraktiver geworden war.


7. Thailand‘s Feudalismus und Freizügigkeit

Nach abflauendem Interesse für den russischen Klub hatte ich neben dem Taxi-fahren Zeit zum Schreiben von Essays und von Fiktion und Realität gegenüber stellenden autobiografischen Stories. Ende Oktober 2009 erfolgte gleichzeitig die Auflösung der Münchner Wohnung und das Taxi-fahren sowie der Unterhalt für den Sohn endeten. München war zu teuer, so ging ich nach Goa (Indien). Die Tropen gefielen, doch die dortige Kultur nur eingeschränkt. So ging ich für 4½ J. nach Thailand (+Nachbarländer), eine lustvolle, anregende und spannende Zeit. Scheinbar ein Schritt zurück in feudale Zeiten faszinierte die ganzheitliche Kultur mit ihrer anderen Beziehungsstruktur und Schönheit. Mögliches und Gefährliches lagen insbesondere für Fremde dicht beieinander. Habe mich bemüht, die Sprache inkl. Schrift zu lernen, was einen besseren Zugang zur asiatischen Mentalität schaffte und beim zunehmendem Interesse für west-östliche Philosophie neue Aspekte eröffnete und auch besseres Verfolgen der sich aufheizenden politischen Ereignisse ermöglichte. Nach Eintreten der Diktatur 2014 wurden freie Meinungsäußerungen so kritisch, dass ich trotz relativ guter Integration und aber finanzieller Schwierigkeiten vorzog, über Moskau nach Berlin zurückzukehren.


8. Berlin‘s Mauer und Migration

Wie auch nach früheren Auslandsaufenthalten war die Rückkehr schwieriger als der Aufbruch. Es wurde nicht nur Einzelnes in verschiedener Hinsicht als recht einschränkend empfunden, es reihten sich viele Frustrationen mit Mietverhältnissen, Bekanntschaften, Verwaltungen und Institutionen aneinander, hinter denen weniger eigene Altersprobleme als immer noch hemmende Kriegsfolgen und Tabuisierungen gesehen wurden. Die Berliner sahen natürlich eher Ursachen in mir als unangepasstem, Polyamorie akzeptierendem Nomaden. Zunehmend gewann ich Zutrauen zu meinen von Ostasien beeinflussten philosophischen Ansätzen ohne hiesige Hochschulen und Peer-Review, fand aber weit mehr Schweigen als Zuwendung. Im Wesentlichen geht es um vereinfachende Grundlagen (Axiomatik) gemeinsam für die zunehmend als zu kompliziert empfundenen Geistes- und Naturwissenschaften und um erneute Säkularisierung, also emotional aufgeladene Themen. Der üblicherweise im Westen gelehrten analysierenden Philosophie soll damit eine synthetisierende Philosophie zugesellt werden, wie Praxis zu Theorie oder wie die Technik zu den Grundlagen-Wissenschaften.


Der bislang fertiggestellte Text des Buches "Düsternbrook" kann auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden. 

© Copyright und alle Rechte Hans J. Unsoeld, Berlin 2019/2020

Updated Sept. 25, 2020

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