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Der Rabe

Dieser Rabe, ein scheinbar etwas weltfremder, aber in diesem Fall ziemlich bunter Vogel, der gerne das Bewusstsein mit der Gießkanne begoss, lebte lange Zeit ohne das Gefühl, ein Nest bauen zu wollen oder müssen. Seine Kinder hatte er nach der Art eines typischen Rabenvaters zur Selbständigkeit erzogen oder hingenommen, dass sie in ein anderes Nest verlegt wurden. So konnte er dorthin flattern, wo es ihm für sein Bewusstsein richtig erschien.

Nein, hier soll jetzt nicht über Bewusstseinsreisen erzählt werden. Ebenso wenig soll darüber sinniert werden, ob den Rabenkindern damit wirklich ein Unrecht getan worden ist, wie manche rechtgläubige Seelen immer wieder behaupteten. Auch über den nicht sehr schmeichelhaften Vorwurf, das teure Bewusstsein genau wie das Geld mit einer Gießkanne verplempert zu haben, soll hier kein einziges Wort geäußert werden. An dieser Stelle geht es um den Nestbau selber.

Zoologische Vögel bauen ihre Nester meist in einer zwar nicht übermäßig ordentlichen, aber doch annähernd runden Form durch Sammeln von einzelnen Bauteilen auf einem hohen Baum, damit nicht eine Katze daherkommt und das ganze Glück zerstört. Doch wie bei allen Tieren gibt es auch bei den Raben Mutanten, die eben anders aussehen oder sich anders verhalten. Der scheinbar egozentrische Rabe, von welchem hier die Rede ist (Corvus humanis), hatte den inneren Trieb, sich ein vierdimensio­nales Nest bauen zu wollen.

Die vier Dimensionen standen ihm aufgrund seines Studiums zur Verfügung. Es handelte sich um drei räumliche und eine zeitliche, welche den üblichen menschlichen Ausmaßen entsprachen. Letzteres dürfte verständlich sein, weil sich die Mutation offensichtlich durch Verseuchung mit humanen Genen ergeben hatte, was auch seinen lateinischen Gattungsnamen erklärt. Dass die räumlichen Dimensionen durchaus ihren Reiz hatten, merkte er recht bald bei seinen Flügen rund um die dreidimensionale Kugel, die seine Welt darstellten. Mit dem imaginären Charakter der vierten Dimension, der zeitlichen, hatte er anfänglich noch seine Schwierigkeiten. Das lag wohl an den Realitäten der Zeit, als er flügge geworden war, - an einem eher als irreal zu bezeichnenden Erziehungs­system in einer völlig irren Zeit.

Da der Rabe also mit der vierten Dimension Probleme hatte, beschäftigte er sich verstärkt mit den anderen drei Dimensionen. Während vieler Jahre erforschte er (man verzeihe dieses wahrscheinlich viel zu hoch gegriffene Wort!) die räumlichen Dimensionen ande­rer Länder und stieß dabei immer wieder auf ein Phänomen, dass ihn sehr beschäftigte und oft so gefangen nahm, dass er es mit der Erforschung dieser Länder regelrecht verwechselte. Es handelt sich um Kontakte mit Katzen, die doch angeblich so gefährlich für den Nestbau sein sollten.

Schnell merkte er, dass ein Großteil der Probleme mit Katzen sprachlicher Art war. Die Katzen verstan­den sein Gekrächze ausgesprochen schlecht, mochten es oft nicht einmal, und machten nur geringe Anläufe, es selber erlernen zu wollen. So beschäftigte er sich ein wenig mit Genetik und versuchte, die Gründe dafür herauszufinden. Doch schon bald hörte er von Ergebnissen in ganz anderen Forschungs­berei­chen, welche besagten, dass bei Katzen die sozialen Gene viel stärker ausgeprägt sind. Da sie außerdem hervorragende Wahrnehmungsorgane haben, vor allem gute Augen und Ohren sowie lange Schnurr­haare, sind sie Meister im Erkennen des Geruchs von Geldscheinen. Umgekehrt kann ein Rabe nur sehr schlecht mit solchen Scheinen umgehen.

Also beschäftigte er sich selber mit Katzensprachen. Diese hingen stark von der jeweiligen Gegend ab, worüber auch die scheinbare Ähnlichkeit aller Katzensprachen nicht hinweg täuschte. Denn natür­lich hatte er die verschiedenen Katzenlaute zunächst nur als Schnurren oder Knurren unterschie­den. Dieser Unterschied schien ihm ziemlich grundlegend und gefiel ihm gar nicht so sehr. Als Vogel wusste er, dass Knurren Gefahr bedeutete, auch wenn das Vögeln noch so schön zu sein und auch der Katze zu gefallen schien. So empfand er auch bei dem Schnurren immer mehr Skepsis.

Beim Erlernen von Katzensprachen stieß er wieder auf das Problem mit der Zeit. Zeit kam ihm immer mehr als etwas sehr Reales vor, was ihm davonzulaufen schien. War die Zeit einfach seine eigene Lebens­zeit, deren Länge er aus dem Internet genau kannte? Eine neue Sprache auch nur halbwegs vernünftig zu erlernen brauchte jeweils mehrere Jahre. Die ohne viel Stolz erzählte Liste seiner Sprachen wurde immer länger. So fühlte er, dass er damit die ihm zur Verfügung stehende reale Zeit vielleicht ein wenig zu leichtfertig und nicht immer sinnvoll verwendete.

Was tun? Nachdenken über die Zeit, oder über die Sprachen, oder gänzlich aufhören, darüber nachzu­denken, was die Werbung an den Litfaßsäulen zu empfehlen schien? Nichts erwies sich als die per­fekte Lösung, so dass er wieder auf das alte, nur in Seglerkreisen gut bekannte Verfahren zurück­greifen musste, nach welchem man gegen die allgemeine Windrichtung liegende, nicht direkt ansteuerbare Ziele im Zickzackkurs zu erreichen versuchen soll.

Ein Rabe im Dschungel fühlt sich magisch von den dortigen wunderschönen Katzen angezogen. Über deren Gefährlichkeit für einen nur müde flatternden Vogel war er sich zwar im Prinzip im Klaren, aber den­noch nicht völlig davon überzeugt. Sollte er nun einen weiten Bogen um sie herum machen und ihre funkeln­den Augen und ihre geschmeidigen Bewegungen nur von einem hohen Ast aus betrachten, oder konnte er es wagen, sich an ihre Futterplätze zu begeben und ihnen näher zu kommen ? Die Neugier über­wog, - wer wagt, gewinnt, und schon immer hatten den Raben Gegensätze angezogen. Ob es unter den als Raubkatzen etikettierten herrlichen Exemplaren Mutanten gab, die ähnlich empfanden?

In der Nachbarschaft des Raben-Nestes hatte sich zu jener Zeit ein neuer Hot Spot gebildet, ein Garten­lokal, in welchem sich zunehmend gerne schräge Vögel und im allgemeinen domestizierte Katzen trafen. In einer Nacht vom Samstag zum Sonntag blieb es in diesem Gehege erstaunlich ruhig. Aus dem Krächz­sprecher drangen hämmernde Töne, die wenig zur Läufigkeit der wohlange­passten Tierchen passten. Sie nagten an Knöchelchen, wie es sich gehört. Als die Starkatze Paulina schlachtreif herein geschli­chen kam, drehten sie sich nur kurz um und warfen der Konkurrenz einen verächtlichen Blick vor die Füße. Die Kater zogen ihre Schwänze ein und verzichteten auf jegliches Gejaule.

Worüber sollten sie auch hässliche Laute ausstoßen? Sie fühlten in ihren verdunkelten Herzen, dass das weder Gefallen noch Erregung auslöste, schluckten einmal tief die angenehme Abendluft und dann ein zweites Mal das landesübliche Bier, welches als gutes Schmiermittel für stromlinien­förmige Unter­hal­tung hingenommen wurde. Die stark gekurvte Bedienung interessierte dieses lang­weilige Spektakel herzlich wenig und sie vergaß daraufhin den Rest aller nur möglichen Herz­lich­keit.

Ihr faulen Hunde, wollt ihr nicht verstehen? Die anderen Tiere zogen die Schwänze ein, soweit das möglich war. Die Katzen schienen darin geübt zu sein. Manch eine von ihnen schlich sich davon. Anders die Vögel, die das Einziehen der Schwänze nur sehr begrenzt zustande bringen. Ein Angry Bird kennt das Problem zum Beispiel durch laufenden Kontakt mit der Steuerung durch program­mierte Medien. Ein Rabe tut sich damit schon viel schwerer, kann und will seinen Schwanz gar nicht ein­zie­hen, und wird daher leicht zum Ziel von Katzen, bei denen in solchen Situationen immer wieder Raub­tier-Tendenzen durchbrechen. Haben die Tiere keinerlei humane Ansätze, welche posi­tive Entwick­lung ingang bringen könnten? Oh lasst uns mit dem dämlichen Positivismus in Ruhe, stöhnen sie und sind nur äußerst schwierig zu weiteren Gesprächen zu bewegen. Ist es denn unmög­lich, Tieren Kultur beizu­bringen? Sie kennen dieses Wort offensichtlich überhaupt nicht. Statt dessen klang es wie im Chor: Kommt euch mit eurem humanen Gequatsche doch nicht besser vor! Im Zweifelsfalle werden wir einfach entsorgt oder wie ihr das auch immer nennt, und an unsere Seelen denkt kein Mensch.

Mehr und mehr realisierte der Rabe, wie grausam das Leben sein kann und mancherorts auch ist. Musste man sich nur abschotten, hinter eine sichere Wand oder ins eigene Nest zurückziehen? Nur kurz blitzte in seinem Hirn der Gedanke auf, dass das Nest gar nicht sein Eigentum war. Die Grau­sam­keit drang in sein Gefühlsleben ein. Er mochte die Katzen, zwar nicht alle gleichermaßen, aber eine von ihnen jetzt ganz besonders und vielleicht sogar mehrere. An dieser Stelle schaute er sich besorgt im Gehege um, wusste er doch schon, wie wenig geschätzt solch eine animalische Einstellung war. Wie sehr mochte er welche und was würde frau dazu sagen. Mit frau meinte er in diesem Moment die junge proletarische Beautykatze, die in sein Nest gekommen war, scheinbar ohne ihn sofort auf­fressen zu wollen. Aber sie wollte Futter haben, und zwar im Laufe der unerbarmlichen Zeit mehr, als er mit seinen nicht mehr ganz jungen Flügeln herbei­schaffen konnte. Wurde sie nun gefährlich oder würde sie auf Futtersuche einfach weiter schleichen und ihn allein lassen, nachdem sie kahl gefressen hatte, was bei ihm zu ergattern war? Besorgt schaute er, wie seine Vorräte sich inzwi­schen schon redu­ziert hatten.

War es mmer wieder nur dasselbe Spiel?


Dieser Text ist aus zwei Auszügen aus den Büchern "Asiatische Nächte" und "Jenseits von Wo und Wann" zusammengestellt.  

© Copyright Hans J. Unsoeld, Berlin 2017 

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