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Des Raben Julia

Jenseits von Romeo, zersplittert von den Schatten einer grausigen Welt, bist du schon früh gekommen und spät immer noch am Wegrand, zusammengefügt aus vielen Facetten, verführend, fantastisch und fern.  

Viele Gesichter hast du und nicht nur die, ein schillerndes Wesen, wer weiß was wollend, wenig fragend, Wärme ausstrahlend und sich fürchtend davor.

Beständigkeit sucht ein junger Vogel, der aus dem Ei ausschlüpft. Er pickt, was ihm geboten wird, biederes bitteres banales und besseres Brot, es geht ums Gehen lernen im verwüsteten Garten jener grausigen Welt. Verwüstet von Männern, von Kälte, von fehlender Vielfalt bist du, Julia, unerwartet bisweilen aufgetaucht aus geheimnisvollem Wasser und genauso oft wieder verschwunden, wohin, warum?

Warst du eine imaginäre Idee, die ganz sein sollte, oder reales Erleben, das sich stets wieder löste in wässrigen Träumen, die alle Trümmer hinter sich ließen und bunte Farben annahmen? Ins Wasser konnte man seinen Schnabel stecken und sogar darin untertauchen, doch die Träume blieben unfassbar und fanden nur Niederschlag in Gefühlen von viel Frieden und versteckt dahinter von vergangener Furcht.

Der Rabe fürchtete sich in seinem Leben nur noch wenig, doch Julia fand seine Gefühle nicht. War sie auf der Suche nach einem richtigen Romeo, der sie in ihrem weniger harten Herzen berührte? Verstehen, was die Welt eines Raben sein könnte, der Millionen Splitter gesehen hatte, wollte sie nicht, weil sie in ihrem kürzeren Leben es nie erlebt hatte. So zersplitterte sich in den Augen des Raben jene Julia in tausende Facetten, die er fortan fleißig zusammen zu fügen versuchte. Wie viel verstand davon Julia, wie viele Facetten nun sein Leben verschönten und zu neuem Leben verführten und immer weiter führten und wirklich fortführten?

Wurde die Wirklichkeit nur aus Träumen von Julia ausgewählt, wie sie war und wo sie war und was denn eigentlich wesentlich war? Wissen zu suchen war wohl der erste Versuch in jener Wahl. Julia war wohl ein Teil der Natur, das sich mit exzellenten Experimenten erforschen ließe. Die Natur so schön, Julia so schön, so schien alles zusammen zu passen. Die Natur strebt nach Vermehrung, Julia machte mit, sie versuchte zu hegen und pflegen und fühlte, das sei ein möglicher Mittelpunkt mancher Welt.

Ihre Welt sollte klar sein, doch der Rabe hatte eine andere, die spielend zersplitterte und das tat auch sie selbst in des Raben Auge, der traurig war, dass sie nicht auch Flügel bekam. Wo ist Julia, fragte er sich, als er die Welt überschaute, und hier eine entdeckte und dort und dann und darum und deshalb.

Sie sprachen nicht die gleichen Sprüche und spielten nicht auf dieselbe Weise und spannen an anderen Träumen, zusammengefügt aus vielen Facetten, verführend, fantastisch und fern. Jetzt gehörte Julia zu den Verfolgten, auch zerrissen, auch viel fühlend, doch mehr denkend und trotzdem unfähig, das verständlich zu machen. Julia und der Rabe, beide nun scheiterten gemeinsam, die vergangene schreckliche Welt bewusst zu machen, die nicht mit Wissen zu verstehen war. Die Welt war jetzt eben so, wie sie war, und sie wollte sie nicht vermehren . So vermehrte sich die Zahl der Julias, und der Rabe wusste immer weniger, wer sie denn waren.

Diese hatte ein wunderschönes Land und jene einen wunderbaren Garten, in welchem saftige Liebe wuchs. Was wollte denn eigentlich der eigensinnige bunt-schwarze Vogel, der sich im Wind so treiben ließ? Wieder einmal ein Ei wurde gelegt und ohne den anderen wenig bekannten Vogel lange Zeit gehegt. Zeit sei mehr wert als alles Geld, von welchem er sowoeso nichts verstand. Welche Folgen hatte das in einem braven Land?

Julia tauchte nun schwarmweise auf aus nie zuvor bekannten Gewässern und verursachte großes Erstaunen. Denn so sehr auch andere Leute läuteten mit nahen und fernen Glocken und vor fehlender Liebe warnten, umso mehr wähnte er sich von dieser umfangen und liebte die dortigen Gewässer. Mag ein Rabe sich von Fischen ernähren, oder verwechselte er Fische und Nixen? Julia verführte ihn mit immer neuen Gesichtern und vor allem auch ganz neuer Haut.

So fing er an, sich mit dieser zu beschäftigen, hinter welcher die Liebe versteckt war. Was ließ diese Haut in sich eindringen, und trat etwa durch sie Liebe hinaus? Wie schön sie war, wie warm, wie fühlend, wie erregbar, wie beweglich und auch fähig zu praktischer Tat,- seine Freude kannte kaum Grenzen. Was war denn ihr Wesen, das Julia so wunderbare Weihe verlieh? Geschmeidig und auch wirklich schön riechend wirkte ihre Haut wie eine natürliche Grenze, die in sie hinein ließ und auch hinaus,- nicht nur Gerüche, nein auch feuchten Schweiß, der aber gesund zu sein schien und zu ihr gehörte und gern gesehen sein sollte in kleinen Perlen bei wechselndem Licht.

Der Rabe lernte die wechselnden Gesichter zu lieben und lernte zu lernen und lernen und zu leben, wie er vorher nicht hatte geliebt. Wer war Julia, woher kam dieses und jenes Gesicht und diese und jene so angenehme Haut und dann wieder eine andere und so wundersam wechselnd und Julia hier und Julia dort und in ihm und in ihr und innerdem und Insel-Leben und jeglicher innerer Reichtum.

Wieder wurde diese Welt zerrissen durch Machtgier, Gewalt und Waffen. So kommen Flüchtlinge zustande, und auch der Rabe fühlte sich wie einer, obwohl er dank seiner Flügel der Gewalt entweichen konnte. Ist es nicht gut, Flügel zu haben? Zurück in dem Lande, wo er aus dem Ei gekrochen war, fühlte er sich nun wie ein Migrant, dem es allerdings wohl leicht gewesen war, alle Grenzen zu überwinden.

Grenzen? Nun erinnerte er sich wieder und wieder der schönen Haut der fernen Julia mit all ihren Gesichtern und doch von erwähnter gleichbleibend perfekter Schönheit, die so schön war, weil sie so vieles vermochte und konnte, hinein vieles lassen und heraus vieles lassen, was auch immer sie wollte, sich grenzenlos angenehm anfühlen und anspannen und entspannen und erregen und – nein, das wollten die Menschen dort nicht hören. Sie wollten die Migranten verbannen hinter dichte Grenzen, die nicht schön erscheinen und sich nicht so schön anfühlen und so zu atmen vermögen und Schweiß abzusondern, das er keinen Ekel auslöst.

Ist dieses Land kein schönes Land, weil es keine schönen Grenzen nicht hat, die nach außen in buntem Licht schimmern und atmen und sogar es wagen, Erregung auszustrahlen? Wie kann solch ein Land sich entwickeln, wenn durch seine Haut hinein und hinaus nichts geht? Es kann nicht einmal ein Entwicklungsland sein.

Hat der Rabe nun Julia vergessen? Natürlich nicht, denn sie entspricht seiner Natur, ist zwar nicht immer real und hat für manche Geister zu viele Gesichter. Nur spürt er, wie schwierig es ist, in einem solchen Land als Rabe zu leben , wo weder kleine Käfer noch größere Tiere die Grenzen mehr passieren, weil diese keine Poren nicht hat und nach Schweiß riechendes Gift nicht hinaus lässt und nicht einmal die schlechte Luft. So kommt auch keine reine Lust herein und das Leben wird lustlos, ohne dass die Menschen es merken, weil sie durch graue Grenzen nur noch mit Fernsehen in die Ferne nun sehen.

Was tun, fragt sich der alternde Rabe, muss er wie ein alterndes Auto, das immer mehr klappert, auf einen der immer größeren Schrottplätze sich begeben und dort wahrscheinlich Julia nie wieder erleben? Dicke Tränen rollen aus seine Augen, doch müde krächzt er wieder und wieder: Wiederverwendung sollte wohl sein und auch ein besseres Äußeres, eine gepflegte schöne Haut mit feinen Poren, nicht dicht geschminkte Grenzen, hinter welchen Migranten verloren und nicht einmal nette Käfer zu finden sind.

Rümpfen die Menschen nun die Nase und sagen, er frisst ja nur Aas und er verwechselt schon Julia und Käfer.

© Hans J. Unsoeld, Berlin 2018

Updated June 10, 2019 

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