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Entwicklung und Rekursion

Veränderung von Strukturen und deren Grenzen sind zweifelsohne primäre Charakteristika von Entwicklung. Ähnlich wie auch bei anderen Basiswörtern wie Freiheit, Liebe, Zweck und Tod und Teufel können auch Strukturen und Grenzen nicht gleich von vorneherein strukturiert oder eingegrenzt werden.

Es bilden sich langsam sprachliche Begriffe heraus, was Kinder erstaunlicherweise besser als Erwachsene können. Heute ist bekannt, dass Spiegelneuronen der entscheidende Trick der Natur sind, mit denen das bewerkstelligt wird, welche aber, und das ist gewiss sehr wesentlich, später abgebaut werden und weitgehend, aber vielleicht nicht vollständig verschwinden.

Kinder gehen von einfachen Silben aus und lernen spielend, diese zu verändern und mit neuen Inhalten zu füllen. Das ist offensichtlich auch eine gute Methode für kindliche ältere Philosophen, um Neuland zu erforschen und zwar absolut nicht nur menschliches, sondern in zunehmendem Maße auch tierisches. Dass Menschen sich wie Tiere verhalten und sogar noch darüber hinausgehen können, haben wir, die Älteren, schmerzhaft in Kriegen gelernt. Die jüngeren Zeitgenossen, welche das Glück hatten, einigermaßen in Frieden zu leben, schirmen sich zunehmend wieder von diesem Bewusstsein ab, verleugnen ihre durchaus tierische Sexualität, und distanzieren sich von diesen auf im Grunde lächerliche Art durch Umhängen eines Penissymbols, genannt Krawatte oder Schlips.

Basisdefinitionen können also im Grunde nicht einfach mit scharfen Grenzen irgendwelchen materiellen oder geistigen oder sogar sexuellen Strukturen zugewiesen werden, sondern “entwickeln” sich. Entwicklung unterliegt also generell laufenden Veränderungen. Im Stillen hoffen wir, dass dabei etwas Besseres als zuvor herauskommt, aber was als besser konzipiert wird, unterliegt laufenden Veränderungen, ganz egal, ob wir Raumzeit oder etwa kulturelle oder Umwelt-Dimensionen als Referenzrahmen benutzen.

Eben hat sich gerade Darwin gemeldet. Er ist bei religiösen Potentaten ziemlich unbeliebt, weil er deren Vorstellungen von festen Grenzen nicht honoriert. Im viktorianischen Zeitalter war es schwer zu vermitteln, dass strenge Treue etwa starre Grenzen bedeutet und für Entwicklung nicht immer das Beste ist. Aber völlig die Grenzen verschwinden zu lassen war gewiss auch nicht das Richtige, weil dann sich alle Strukturen auflösen. Dämme sind bei Hochwasser nötig, doch wenn ihr Bau zu aufwendig wird oder das Wasser zu stark ansteigt, gehen wir wohl besser zum Bau von Schiffen über. Das bedeutet im Prinzip Anerkennung von Nomaden, welche aber auch von irgendetwas leben müssen. So entsteht eben Handel. Händler gehen gern in Beziehungen ein, welche sich aber nicht unbedingt völlig ab- oder eingrenzen lassen. Untreue ist ein Produkt von flexiblem Handel. Dieser lässt sich auch nicht völlig abgrenzen, denn es geht außer um Gesellschaft auch um Individuen, welche sich aber beide nicht hinter dicken Mauern einsperren lassen.

Was tun? Menschen bleibt wie Tieren nur übrig, sich vorsichtig an unbekannte Ziele anzuschleichen, was gefährlich, aber kaum vermeidbar sein mag, wie wir heute erneut in der Raumfahrt lernen. Solche Entwicklungen spiegeln sich auch in der Sprache wider. Philosophen scheinen sich dabei wie Spiegelneuronen für Erwachsene zu fühlen. Die Sache wird heutzutage noch dadurch kompliziert, dass wir zunehmend ein mehr oder weniger vages Bewusstsein dafür haben, wie viele mögliche Sprachen es gibt, nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern auch für verschiedene Computer und bei Tieren und auf Beteigeuze. Sie könnte vielleicht bald zu einer Supernova werden. Wie bitte? Entschuldigung, wenn innerhalb der Grenzen des “normalen” Verständnisses, gemeint ist wohl des durchschnittlichen, solche Ausdrücke verwendet werden. Aber das könnte ja Entwicklung beinhalten. Doch wenn sich der Inhalt erweitert, bedeutet das die stille und leise Erweiterung von Grenzen. Gorbatschow hat das den Europäern gestattet, Putin schiebt die Grenzen nun wieder etwas in die andere Richtung.

Große Strukturen brauchen aber für “gesunde” Entwicklung auch innere Grenzen. Die Natur zeigt, das zwar Organe sehr sinnvoll und wichtig sind, doch ebenfalls Kooperation von vielen ähnlichen Zellen mit einem geregelten Austausch zwischen diesen. Daran mangelt es vielleicht in großen Staaten. Zwischen dem US-amerikanischen mittleren Westen und Googleland, zwischen Shanghai und Uighurenland, zwischen Kairo und Wüstenland, zwischen Brüssel und Balkanland,- überall hapert es daran. Doch eben nicht nur zwischen räumlichen Bereichen oder Sprachen und Kulturen, selbst innerhaln der einzelnen Lebewesen gibt es dieses Phänomen, Denn diese bestehen aus verschiedenen Körperteilen mit verschieden stark ausgeprägten Grenzen zwischen diesen. Die Grenzen zwischen Rationalität, Gefühlen. Sexualität und Aktivitäten entsprechen erheblich unseren vier Körperteilen Kopf, Ober- und Unterleib und Extremitäten. Damit weisen sie uns auf die unangenehme Tatsache hin, dass bei Menschen und Tieren diese Verhältnisse ähnlicher sind, als wir wahrhaben wollen. So wird gründlich auf das Primat von Rationalität gepocht und den höheren Tieren zum Schein die Bezeichnung Primaten gegeben, was als ziemlich verlogen erscheint. Darunter leiden nicht unbedingt sehr unterschiedlich sowohl die Tiere wie auch unsere eigene Sexualität. Beide können abgetötet werden. Es gibt aber Nomaden, die berichten, dass jenseits der nationalen Grenzen von zu starrer Legalität ganz andere Welten existieren. Doch schon manchem von ihnen wurde Zeit ihres Lebens lang nicht geglaubt, so etwa Marco Polo oder Galileo Galilei. Sowohl die Chinesen als auch der Vatikan verlegten sich erfolglos auf das Errichten von Mauern. Bleibt einem modernen Entdecker nichts anderes übrig als eine tierische Identität anzunehmen, um der Übermacht der Rationalität zu entfliehen, welche aber im Grunde gar nicht falsch ist, sondern eben nur zu harte Grenzen der verschiedensten Art errichtet? Doch Grenzen können nicht von nur rational vorgehenden Institutionen erforscht und gestaltet werden. Lernt von den Widerkäuern, dass Gefühle und Fitness, Sexualität und Macht, sowie Aktivität und Mobilität genauso wichtig sind.

Dieses Lernen kann nur rekursiv erfolgen, also durch Annäherung in kaum messbar kleinen Schritten an ein unbekanntes Ziel. Rekursion führt dort weiter, wo Logik das nicht mehr tut. Entwicklung bedeutet also unweigerlich mehr als logisches Vorgehen und schließt unter anderem damit Kreativität ein, aber auch so verschiedene Phänomene wie Digital Design oder Populismus. Umgekehrt kann jedes Spezialistentum, das strikte Einschränkungen akzeptiert, nicht als “echte” Entwicklung angesehen werden. Das gilt unter anderem auch für jedes Wachstum, das Kontaktinhibition unterliegt, sowohl in Biologie und Ökologie wie auch in Wirtschaft und Ökonomie.

Darwin ist nur dann gefährlich, wenn er sich auf Logik und Rationalität eingrenzen muss. Dann ist seine letzte Konsequenz, dass derjenige überlebt, der schneller schießt. Doch jenseits dieser Grenzen gibt es glücklicherweise friedlichere Gebiete. 

© Hans J. Unsoeld Berlin 2020

200919  

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