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Moral und der Mittlere Weg

Moral im Prinzip nicht statisch fixierbar

Moral ist nach öffentlicher Lesart eine Sammlung von fixierbaren Regeln mit einem hohen Grad von allgemeiner Verbindlichkeit, während im persönlichen Bereich letztere durchaus nicht selten infrage gestellt wird. Wie stark diese Tendenz ausgeprägt ist, hängt deutlich vom Grad der persönlichen Einordnung in die jeweilige Gesellschaft oder Gemeinschaft ab. 

Soziologen unterscheiden mit gutem Grund sehr klar zwischen einer Gesellschaft mit verbindlich gemachten Gesetzen und einer Gemeinschaft mit einem begrenzten Interessenbereich ohne notwendigerweise fixierte Abmachungen. Eine Gesellschaft verfolgt in erster Linie Schutz- und Machtinteressen, während eine Gemeinschaft flexible Verfolgung von bestimmten Interessen zum Ziel hat.

Moral hängt in diesem Sinn ebenfalls davon ab, ob sie als ein gesellschaftliches oder ein privates Phänomen gesehen wird. In historischer Sicht war gesellschaftliche Moral zumeist, aber nicht ausschließlich in Regeln fixiert und diente als Herrschaftsinstrument. Sie entwickelte sich jedoch aus lokalen Umweltbedingungen und unterlag damit Erfahrungen aus evolutionären Anpassungen. Diese Anpassungen standen und stehen im persönlichen Bereich sehr viel stärker im Vordergrund.

Eine Gesellschaft dürfte langfristig umso erfolgreicher sein, je besser ihre Wechselwirkung mit dem persönlichen Bereich ihrer Individuen erfolgt. Diese Tendenzen zu kanalisieren sollte gewiss eine der Aufgaben einer modernen Demokratie sein. Es muss also zunehmend die dynamische Komponente in einer früher eher statischen Situation gestärkt werden.

Zu welchem Grad lässt sich nun Moral aus einem modern, also dynamisch verstandenem Mittleren Weg herleiten oder eventuell sogar durch diesen zunehmend ersetzen? Dies wäre sicher weitaus mehr im Interesse der Individuen als der Gesellschaft, welche zur Festigung ihrer Macht der Fixierung von Moral zu bedürfen scheint. Wie weitgehend das gerechtfertigt ist, lässt sich ohne Glaubensüberzeugungen kaum entscheiden. De facto wird der Erfolg die Mittel heiligen, d.h. Darwin wird ein kräftiges Wort mitzureden haben.

Je stärker dabei der evolutionäre Gedanke eine Rolle spielt, umso mehr sollten wir zur Kenntnis nehmen, welche Verhaltensweisen von Tieren bereits als Vorläufer der menschlichen Moralvorstellungen gedeutet werden können. Neuere Untersuchungen bringen immer mehr Fakten, welche auf eine völlige Unterschätzung dieses Anteils hindeuten.

Wesentlich ist auf jeden Fall, ein allgemeines Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass jegliche Moral an die Eigenarten der Individuen in der jeweiligen Umwelt und an Raum und Zeit gebunden ist.

Wir können aber auch sagen, dass jegliche Moral entsprechend den im Zusammenhang mit einem modernen Mittleren Weg geäußerten Vorstellungen zwar durchaus eine rationale Komponente hat, daneben aber auch weitere Anteile, die entsprechend direkt aus dem Gefühlsleben, dem sexuellen Bereich und Erfahrungen fernab der häuslichen Welt stammen, ohne dass sie zuvor rational gefiltert sein müssen.

In einer modernen dynamischen Sichtweise ist Moral also im Prinzip nicht statisch fixierbar. Sie wird laufend von den Individuen einer Gesellschaft zunächst im Nahbereich ausgelotet und lässt sich nur näherungsweise festlegen, muss sich also zwangsläufig mit Ort und Zeit ändern, kann aber bei größerer Mobilität auch den Fernbereich einbeziehen.

Eine Gesellschaft wäre demnach gut beraten bzw. als besser zu betrachten, wenn sie ungehindert auf derartige Änderungen reagiert und sich nicht starr verhält. Der momentan noch erhebliche statische Anteil sollte also bewusst kontinuierlich reduziert werden. Dass dies etwa nach kriegerischen Ereignissen auch sprunghaft der Fall sein kann, müssen wir zwar zur Kenntnis nehmen, aber nicht ohne weiteres akzeptieren.  

© Copyright and all rights Hans J. Unsoeld, Berlin 2017

Updated June 11, 2018     

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